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SozDia Stiftung Berlin - Der Mensch zählt, nicht sein Vorleben
Scheckübergabe: Michael Heinisch-Kirch mit Peter Viens (r.), IREIT Global | Foto: BERLINboxx

SozDia Stiftung Berlin - Der Mensch zählt, nicht sein Vorleben

10. Juli 2025

Auszeichnung für Michael Heinisch-Kirch als Capital Player

Michael Heinisch‑Kirch prägt Berlin seit mehr als 35 Jahren als Brückenbauer zwischen Zivilgesellschaft, Kirche und Politik. Als Gründer des Vereins „Sozialdiakonische Arbeit Lichtenberg“ und Vorsitzender der SozDia Stiftung Berlin - Gemeinsam Leben Gestalten setzt er sich unermüdlich für benachteiligte Jugend‑, Familien‑ und Nachbarschaftsprojekte ein, die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Sein Lebensweg - vom DDR‑Widerstand bis zur Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz - steht für Mut, demokratisches Engagement und gesellschaftliche Verantwortung. Seine Arbeit schafft Orte des Miteinanders und setzt Impulse für eine inklusive Gesellschaft - ein Capital Player, der soziale Innovation, Demokratie und Nachhaltigkeit in vorbildlicher Weise verbindet. Dafür wurde Michael Heinisch‑Kirch nun als Capital Player ausgezeichnet. Und Kintyre, das derzeit für IREIT Global mit re:o den größten Büro-Campus Berlins entwickelt, unterstützt seine Arbeit mit einer großzügigen Spende.

Ausgezeichnet: Michael Heinisch-Kirch mit Frank Schmeichel (r.), Business Network | Foto: BERLINboxx

Michael Heinisch-Kirch im Gespräch über 35 Jahre SozDia, Sozialarbeit und die Kunst, neue Wege zu gehen

Michael Heinisch-Kirch prägt seit über drei Jahrzehnten die soziale Landschaft Berlins. Als Gründer der SozDia Stiftung Berlin hat er Generationen von Jugendlichen, Familien und benachteiligten Menschen Perspektiven eröffnet - oft gegen den gesellschaftlichen Strom. Im Gespräch mit der BERLINboxx blickt er zurück auf eine bewegte Zeit zwischen Umbruch und Aufbruch, spricht über prägende Begegnungen, Herausforderungen im Alltag und die Zukunft der sozialen Arbeit im digitalen Zeitalter.

BERLINboxx: Herr Heinisch-Kirch, wenn man Ihre Biografie liest, bekommt man den Eindruck: Sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wann hat das alles angefangen?

Heinisch-Kirch: Ganz konkret: Im Sommer 1990, noch vor der Wiedervereinigung. Ich war damals als Sozialdiakon in Ost-Berlin tätig, und es war eine völlig verrückte Zeit. Die DDR existierte formal noch, aber die Mauer war offen. Es gab plötzlich Spielräume, von denen wir vorher nicht mal zu träumen wagten. Jeder, der eine gute Idee hatte, konnte sie umsetzen. Ich hatte einen Raum im Kirchenkeller, in der Erlöserkirche, wo sich dienstags die Skins und mittwochs die Punks trafen – getrennt natürlich. Die wussten voneinander und akzeptierten den Schutzraum Kirche.

BERLINboxx: Wie wurde daraus die Gründung der SozDia?

Heinisch-Kirch: Die sozialen Verwerfungen nach der Wende waren riesig. Viele Jugendliche hatten keine Perspektive, Ex-Häftlinge und Alkoholiker standen buchstäblich auf der Straße. Ich dachte: Ein Freizeitclub reicht da nicht mehr. Also habe ich ein Haus zur Sanierung angefragt. Ich fuhr mit dem Dienst-Trabbi zur Wohnungsbaugesellschaft. Ein Mitarbeiter schrieb mir per Schreibmaschine einen Mietvertrag über 15 Jahre. Noch wusste keiner, ob das juristisch haltbar war – aber es war der Anfang. Der Kirchenkreis sagte: Dann gründen wir eben einen Verein. Und so war es.

BERLINboxx: Sie wurden auch angefeindet.

Heinisch-Kirch: Ja, vor allem, weil wir mit rechten Jugendlichen gearbeitet haben. Das passte nicht in die linke Deutungshoheit West-Berlins. Manche hielten uns für rechtsradikal, das Projekt wurde sogar im Verfassungsschutzbericht erwähnt. Einfach, weil jemand in der Zeitung darübergeschrieben hatte. Aber ich habe nie Unterschiede gemacht: Mensch ist Mensch.

BERLINboxx: Gab es auch persönliche Momente der Unsicherheit in dieser Gründungsphase?

Heinisch-Kirch: Natürlich. Ich war Anfang dreißig, frisch Vater, und trug plötzlich Verantwortung für ein Projekt mit Menschen, die niemand sonst aufnehmen wollte. Ich erinnere mich an Gespräche mit meinem damaligen Superintendenten, der sagte: "Wenn du glaubst, das ist richtig – dann unterschreib." Ich hatte weder eine Stiftung noch eine Rechtsberatung, aber ich hatte Vertrauen.

BERLINboxx: Was war Ihr erster großer Erfolg?

Heinisch-Kirch: Wir haben ein völlig verfallenes Haus mit Jugendlichen aus der Szene saniert. Zwei Jahre lang. Danach waren acht oder neun Wohnungen fertig, aber keiner von ihnen wollte mehr einziehen – sie hatten inzwischen ihr Leben anders organisiert. Also haben wir das Haus für Straßenkinder geöffnet, die aus besetzten Häusern kamen. Dort waren sie sicher vor der Polizei, aber ohne jede Struktur. Wir boten ihnen Ansprechpartner, Waschgelegenheiten, Begleitung. Viele blieben. Daraus entwickelte sich die erste Pionier-Wohngruppe.

BERLINboxx: Und irgendwann wurde aus dem Verein eine Stiftung?

Heinisch-Kirch: Ja. Als wir erfolgreich wurden, wuchs auch die Verantwortung. Wir wollten verhindern, dass das Geld zweckentfremdet wird. Also beschlossen wir mit den älter gewordenen Vereinsmitgliedern: Wir gründen eine Stiftung, übertragen das Vermögen und lösen den Verein auf. Heute ist die SozDia eine gemeinnützige Stiftung mit drei Tochtergesellschaften für operative Arbeit.

BERLINboxx: Wie viele Menschen erreicht die Stiftung heute?

Heinisch-Kirch: Täglich rund 5.000. Wir haben Kitas, betreutes Wohnen, Ausbildungsprojekte. Allein unser Ausbildungsrestaurant hat über 1.000 Lehrlinge hervorgebracht. Und es gibt Mitarbeitende, die aus dem allerersten Projekt stammen – heute leiten sie Abteilungen.

BERLINboxx: Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders bewegt hat?

Heinisch-Kirch: Ja. Ein Jugendlicher kam zu uns, nachdem er 52 Einrichtungen durchlaufen hatte. Mit 13. Er hatte staatlich bezahlten Wachschutz, war massiv traumatisiert, kotete ins Bett. Wir haben ihn nicht weggeschickt. Nach einem Jahr sagte er: Ich ziehe zu meiner Mutter. Heute lebt er dort stabil. Und kam zurück, um sich zu bedanken. Das war für mich ein Moment, der alles rechtfertigt.

BERLINboxx: Die Welt hat sich verändert. Wie begegnen Sie Digitalisierung und KI?

Heinisch-Kirch: Wir haben eine eigene Abteilung dafür. Ein Beispiel: Bei Nachbarschaftsbeschwerden unterstützt uns die KI bei der Formulierung von Antwortschreiben. Das spart Zeit . Gleichzeitig sind Jugendliche heute einer digitalen Parallelwelt ausgesetzt, die oft völlig dysfunktional ist. Unser Ziel ist, Beziehung und Vertrauen aufzubauen – das geht nicht digital.

BERLINboxx: Gibt es auch neue pädagogische Ansätze?

Heinisch-Kirch: Absolut. Wir arbeiten mit sozialraumorientierten Konzepten, stärken Peer-Ansätze, setzen auf kulturelle Bildung, weil viele junge Menschen sich dort erstmals gesehen fühlen. Und wir holen uns Fachwissen aus unterschiedlichsten Kontexten, sei es Traumapädagogik, systemische Beratung oder auch partizipative Projektentwicklung. Die Zeiten, in denen wir einfach "von oben herab" Hilfe organisiert haben, sind vorbei.

BERLINboxx: Und privat: Wie schafft man das alles – Familie, Beruf, Verantwortung?

Heinisch-Kirch: Ich habe fünf Kinder in unsere Ehe mitgebracht, eines haben meine Frau und ich zusammen bekommen. Meine Frau arbeitet mit. Es ist ein Familienprojekt. Unser Sohn macht gerade sein Abitur nach. Meine Tochter ist 15. Und bei uns leben immer noch Menschen, mit denen wir arbeiten. Es ist kein Nine-to-Five-Job. Aber wenn ich zwei Wochen Urlaub hatte, will ich wieder los.

BERLINboxx: Was ist Ihr Antrieb nach 35 Jahren?

Heinisch-Kirch: Die Menschen. Ihre Geschichten. Der Moment, wenn jemand, den alle aufgegeben hatten, wieder Vertrauen fasst. Wenn ein Kind sagt: Ich habe wieder eine Perspektive. Das bleibt. Das ist der eigentliche Gewinn.

BERLINboxx: Herr Heinisch-Kirch, danke für dieses Gespräch.

Heinisch-Kirch: Ich danke Ihnen. Und allen, die mit uns diesen Weg gehen.