Fokus Mittelstand
Deutschlands Wirtschaft, das sind nicht nur weltbekannte Konzerne. Wachstum und Wohlstand verdanken wir in erster Linie den Millionen mittelständischen Unternehmen, deren Namen weniger bekannt sind. Sie exportieren Produkte Made in Germany in alle Welt, bieten sichere Arbeitsplätze und bilden die Fachkräfte von morgen aus. Doch von allen Parteien in Sonntagsreden gelobt, kämpfen die Klein- und Mittelbetriebe im Alltag mit einer Politik, die ihnen immer neue Lasten aufbürdet. Der Berliner Senat hat aus den Fehlern seiner Vorgänger gelernt. Jetzt heißt es: Vorfahrt für den Mittelstand!
Motor und Maßstab
Klein- und Mittelbetriebe prägen die Struktur der Hauptstadt-Wirtschaft. Vom kreativen Start-up über den traditionellen Handwerksbetrieb bis hin zur Hightech-Schmiede, ohne sie geht nichts in unserer Stadt. Lange Zeit fühlten sich die Mittelständler von der Politik alleingelassen. Sie beklagen die drückende Steuer- und Abgabenlast, wuchernde Bürokratie, explodierende Energiekosten. Leiden unter akutem Fachkräftemangel, sorgen sich um Nachwuchs und Nachfolge. Der schwarz-rote Senat hat einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel eingeleitet. Sichtbares Zeichen ist die „Made in Berlin“-Tour der Wirtschaftssenatorin. Mit Besuchen bei Hidden Champions zeigt Franziska Giffey, was Berlins Mittelstand zu bieten hat.
Der Mittelstand, was ist das eigentlich? Welche Unternehmen gehören dazu, und warum? Kann auch ein Familienkonzern mit hunderten MitarbeiterInnen mittelständisch sein, oder nur der kleine Handwerksbetrieb von nebenan? Anders gefragt, gibt es definitorische Ober- oder Untergrenzen bei Beschäftigtenzahl und Umsatz? Die Debatte um die bloße Begrifflichkeit scheint auf den ersten Blick akademisch abgehoben, ist aber von hoher Relevanz in der unternehmerischen Praxis, etwa im Umgang mit Behörden auf Landes- und Bundesebene. Von den Brüsseler Eurokraten und ihrer Klassifizierungs- und Regelungswut gar nicht erst zu reden. Sie verweist zudem implizit auf eine der größten Belastungen für unsere MittelständlerInnen, und das war und ist die staatliche Bürokratie .
Der Nationale Normenkontrollrat – was für ein Name! – beziffert in seinem Jahresbericht 2023 den bürokratischen Erfüllungsaufwand für die heimische Wirtschaft auf 20,2 Milliarden Euro. Pro Jahr, wohlgemerkt. Gemeint sind damit die massiven Kosten, die den Unternehmen durch Umsetzung aller Gesetze, Vorschriften, Regeln, Anwendungsbestimmungen sowie Statistik-, Berichts- und sonstiger Pflichten entstehen. „Mein Eindruck ist, dass ein Teil der deutschen Wirtschaft wirklich unter einem Bürokratie-Burn-out leidet“, räumte unlängst Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann in einem Anflug von Selbstkritik ein. Und die Präsidentin der Handwerkskammer Berlin, Carola Zahrt, seufzt: „Bevor überhaupt der erste Handgriff eines Handwerkers erfolgen kann, sind aufwendige Dokumentations- und Nachweispflichten fällig.“
Bürde Bürokratie
Apropos Statistik: satte 99 Prozent der rund 3,5 Millionen Unternehmen in Deutschland sind Klein- und Mittelbetriebe. Diese sind in der Regel viel zu klein, um MitarbeiterInnen eigens für den Papierkrieg ab- oder einstellen zu können. Mit der Folge, dass der genervte Firmenchef selbst die Bürokratieberge am Wochenende in häuslichem Fleiß bewältigen muss. Dazu passt eine aktuelle Umfrage des Familienunternehmer-Verbandes zu den größten Investitionshemmnissen. Die mit Abstand meisten MittelständlerInnen, nämlich 55 Prozent, antworteten, staatliche Überregulierung, sprich: Bürokratie, hindere sie daran, in ihre Zukunft zu investieren. Auf den Plätzen zwei und drei landeten der Fachkräftemangel (43 Prozent) sowie die Unberechenbarkeit der Wirtschafts- und Finanzpolitik (41 Prozent).
Entsprechend hart gehen die Unternehmen mit der Politik ins Gericht, die sie für den Missstand verantwortlich machen. In der Jahresumfrage 2023 des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW), dem wichtigsten und zugleich größten Dachverband, bewerten 44,8 Prozent die Arbeit der Bundesregierung mit ungenügend, 27,2 Prozent gaben der Ampel die Schulnote mangelhaft, und 12 Prozent ein ausreichend. Vernichtender geht es kaum. „Die Zahlen zeigen mehr als deutlich, dass die Geduld der Leistungsträger in diesem Land zu Ende ist“, mahnt BVMW-Chef Christoph Ahlhaus . Die Reserven seien aufgebraucht, für viele gehe es jetzt nur noch ums Überleben.
Fünf vor zwölf also für den deutschen Mittelstand. Doch zunächst zurück zu der Frage, was oder wer Mittelstand ist. Die einfachste Definition liefert die unternehmerische Praxis. Im mittelständischen Unternehmen bilden Eigentum, Haftung und Führung eine untrennbare Einheit. Im Klartext: Für Fehler haftet der Firmeninhaber im worst case mit seinem Privatvermögen, Haus und Hof. Und noch etwas anderes unterscheidet den klassischen Klein- und Mittelbetrieb von einem Konzern. Geht ein Großunternehmen pleite, eilen flugs Landes- oder gar Bundespolitiker zu einer medienwirksamen Rettungsaktion herbei. Besonders gern natürlich zu Wahlkampfzeiten. „Im Mittelstand kommt nur einer, und das ist der Gerichtsvollzieher“, konstatierte bitter der viel zu früh verstorbene „Mr. Mittelstand“ Mario Ohoven.
Rückgrat der Wirtschaft
Bleiben wir bei den Leistungen der Millionen Mittelständler für unser Land. Sie sind Wirtschafts- und Beschäftigungsmotor zugleich, indem sie krisensichere Jobs schaffen und drei Viertel aller Lehrlinge ausbilden. Mit fast 97 Prozent aller exportierenden Unternehmen bilden die Klein- und Mittelbetriebe seit Wirtschaftswunderzeiten das Fundament für Deutschlands Exporterfolg. Und nicht zu vergessen: Die mittelständischen UnternehmerInnen zahlen brav ihre Steuern – und das vor Ort. Ihre traditionelle Verwurzelung in der Region erweist sich auch in anderer Hinsicht als Segen. Ohne ihr gesellschaftliches Engagement müssten tausende Kultureinrichtungen, aber auch Sportclubs und sonstige Vereine sofort dichtmachen.
Was für Deutschland insgesamt gilt, lässt sich ohne Weiteres auf die Hauptstadt übertragen. „Die Berliner Wirtschaftsstruktur wird zu 98 Prozent von Unternehmen, die weniger als 50 Mitarbeiter beschäftigen, geprägt“, weiß IHK-Präsident Sebastian Stietzel. Und die stöhnen, wie die Mehrzahl der deutschen Mittelständler, unter einer im europäischen Vergleich extrem hohen Steuer- und Abgabenlast. Sie winden sich im Würgegriff einer hypertrophen Bürokratie, müssen explodierende Energiekosten schultern und verspüren schmerzlich den wachsenden Fachkräftemangel. Dennoch gibt es in einen wesentlichen Unterschied zum Rest der Republik.
Im Regierenden Bürgermeister Kai Wegner haben die Berliner UnternehmerInnen einen verlässlichen Verbündeten, der um ihre Nöte und Sorgen aus eigenem Erleben weiß. Die Nähe des Christdemokraten zum Mittelstand kommt nicht von ungefähr: Sein Vater war Bauarbeiter, seine Mutter Einzelhandelskauffrau. Er selbst arbeitete in einem kleinen Bauunternehmen. Alles Erfahrungen aus der Arbeitswelt, wie sie nur allzu wenige Parteisoldaten und Parlamentarier vorweisen können.
In der Politik in Bund und Land dominiert nach wie vor der Karriere-Klassiker: Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal. „Im Mittelstand werden Werte gelebt, die mich bis heute in meinem politischen Engagement prägen“, hält Wegner diesem Typus von Volksvertretern entgegen. Drastischer formuliert es sein Parteifreund Wolfgang Reinhart, der es als Selbständiger bis zum Minister in Baden-Württemberg, dem Kernland des deutschen Mittelstands, gebracht hat und heute das Amt des Vizepräsidenten im Stuttgarter Landtag innehat. Sein Credo: „Wir brauchen weniger Mundwerker – und mehr Handwerker.“
Stabilitätsanker Handwerk
Mit Mittelstand dürften die meisten BerlinerInnen am ehesten den kleinen Handwerksbetrieb im Kiez verbinden. Fleißig, bodenständig, innovativ und inhabergeführt. Wie die Polsterwerkstatt Iris Seegert im Schöneberger Kiez. „Mit meinem ganzen Mut und zwei Tüten voller Stoffe startete ich durch“, blickt die Prinzipalin zurück. In 25 Jahren gelang ihr der Sprung an die Spitze, dank Leidenschaft und Leistung. Heute zählen Global Player wie der Volkswagen Konzern, Botschaften oder Hotelketten zu ihren anspruchsvollen Kunden. Erfolgsmodell Mittelstand eben.
Das Handwerk garantiere die Versorgung unserer Stadt, betont Carola Zahrt nicht ohne Stolz. Sorge bereitet der Kammerpräsidentin der eklatante Fachkräftemangel in nahezu allen Gewerken. Selbst in „Modebranchen“, wie Heizung-Klima oder energetischer Sanierung, von der Kammerpräsidentin zu Recht als „wirtschaftlicher Stabilitätsanker für Berlin“ gelobt, fehlt es an Nachwuchs. Dazu kommt auch hier die Bürokratiebelastung durch „Verkomplizierung und unverhältnismäßigen Aufwand bei Auftrags- und Vergabeverfahren“. Es brauche daher dringend einen „Anti-Bürokratie-Booster“, fordert die oberste Handwerkerin der Hauptstadt.
Dabei kann sie sich der Unterstützung wohl aller Mittelständler sicher sein. Egal, ob Handwerk oder Dienstleistung, produzierendes Gewerbe oder Handel. Sie fordern unisono von der Politik „konkrete Maßnahmen zur Eindämmung des täglichen Irrsinns, mit dem wir uns durch Ämter und Behörden konfrontiert sehen“, bringt es Andreas Giest auf den Punkt. Sein Unternehmen, die Berliner Kaffeerösterei Giest & Compagnon, beschäftigt 120 MitarbeiterInnen. Halb im Scherz, halb im Ernst fügt er hinzu, wer „wirtschaftlich tätig wird, muss durchaus leidensfähig sein“.
Im Dickicht der Vorschriften
Ähnlich sieht es Ingo Kersten, Gründer und CEO von 1stClassJets, einem Spezialisten für Aircraft-Management-Kunden in aller Welt. Für sich und sein kleines, hochqualifiziertes Team wünscht er sich den unverzüglichen „Abbau des unsinnigen sowie kosten- und personalintensiven Vorschriften-Chaos sowie von absurden Maßregelungen“. Das setze allerdings „mehr Kompetenz und Mut bei Entscheidungsträgern“ voraus. Ein frommer Wunsch, solange Politiker vorzugsweise in eigener Sache Gesetze machen, was der Verfassungsrechtler und Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim schon vor 30 Jahren anprangerte.
Insbesondere die Bundesregierung beschließe Gesetze, die kleine Unternehmen massiv belasten, macht Gerald Bock, Geschäftsführer des unabhängigen IT-Dienstleisters araneaNET, seinem Unmut Luft. „Für die wertschöpfenden Tätigkeiten bleibt weniger Zeit“ – und die ist bekanntlich Geld. Bock und seine 30 Mitarbeiter betreuen von Potsdam-Babelsberg aus Kunden vorrangig in Berlin und Brandenburg, aber auch bundesweit und international. Daher sein Postulat: „Bürokratieabbau statt mehr Bürokratie.“
Zustimmung auch von Volker Cicha , der die Geschäfte bei Ortho-Ped führt. Das Wilmersdorfer Sanitätshaus mit rund 30 Beschäftigten, zu dem mittlerweile zwei Dependancen auf Zypern gehören, verbindet traditionelles Orthopädie-Handwerk mit Hightech-Verfahren. Ihm bereitet in zunehmendem Maße die steuerliche Belastung in Kombination mit steigenden Rohstoffpreisen schlaflose Nächte. Auf Berlin an sich lässt er jedoch nichts kommen: „Multikulturell, gute Kundschaft, gute Kaufkraft“.
Die Vorzüge einer weltoffenen Großstadt weiß ebenso Claus Deuerling vom Berliner Studio Bitteschön.tv, zu schätzen. Das kleine Studio hat sich auf Illustration, Animation und Storytelling für große Kunden auf dem regionalen, aber auch internationalen Markt spezialisiert, von A wie AOK bis Z wie Zumtobel. Der Business Director Games beklagt fehlende Planungssicherheit – und wünscht sich einen Ausbau des Internets. „Es gibt regelmäßig Momente, in denen man gelähmt wird und sich Prozesse in die Länge ziehen.“ Peinlich für Berlin, das in puncto Innovation eine Vorreiterrolle für sich reklamiert.
Starke Start-up-Szene
Vielfältig wie die Stadt selbst ist ihre Wirtschaft. Vom Einzelkämpfer bis zum (Welt)Marktführer, es gibt nichts, was es nicht gibt. Ein Markenzeichen der Metropole ist die pulsierende Start-up-Szene: Nahezu die Hälfte der Top-Mittelständler, die es in das maßgebliche DDW-Ranking „Mittelstand 10.000“ geschafft haben, wurde nach 1990 gegründet. Gut 13 Prozent sogar nach dem Jahr 2000, ein bundesweiter Spitzenwert. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der Hauptstadtregion ist der mit 52 Prozent im Bundesvergleich höchste Anteil von Dienstleistern unter den führenden Mittelständlern. Zur Industrie zählen 29 Prozent, gefolgt vom Handel mit 19 Prozent.
Zu Besuch bei Marktführern
Verständlich, dass die erste Garde im Roten Rathaus sich gern mit erfolgreichen MittelständlerInnen zeigt. So sucht Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) auch in diesem Jahr wieder ausgesuchte Unternehmen auf. Notabene begleitet von einem Medientross. Ihre Besuche sollen zugleich signalisieren, wie sehr dem neuen Senat die heimische Wirtschaft am Herzen liegt. Denn anders als sein rot-rot-grüner Vorgänger, dem die hauptstädtische Unternehmerschaft – freundlich formuliert – herzlich egal war, schenkt der schwarz-rote Senat den Klein- und Mittelbetrieben endlich die Beachtung, die sie ob ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auch verdienen.
Den Auftakt der „Made in Berlin“-Tour bildeten am Jahresbeginn zwei Hidden Champions, sprich: Marktführer aus dem Mittelstand. Im Innovationspark Wuhlheide tüftelt und produziert micro resist technology. Das inhabergeführte Unternehmen wurde 1993 von der Chemikerin Gabi Grützner gegründet und ist führend in der Entwicklung von Spezialchemikalien für die Erzeugung von Mikro- und Nanostrukturen. So arbeitet micro resist gerade zusammen mit Google an einer virtuellen Brille, die ergänzende Daten ins reale Sichtfeld des Trägers schreibt. Prädikat „extrem innovativ“, befand Franziska Giffey.
Auf einem gänzlich anderen Gebiet ist Kryolan Weltspitze. Und das seit über 75 Jahren. Gruselig gut: In unzähligen Produktionen in Film, Theater und Fernsehen rund um den Globus fließt Kunstblut Made in Wedding. Der Familienbetrieb mit rund 200 MitarbeiterInnen liefert zudem professionelles Make-up für Hollywood-Größen wie Steven Spielberg, Kate Winslet oder Johnny Depp. Die aktuelle Palette umfasst mehr als 18.000 Make-up-Produkte und Zubehör, von A wie Augenblut bis Z wie Zahnlack. Kryolan zählt zu den Vorzeigeunternehmen der Chemie- und Pharmabranche, die wiederum der umsatzstärkste Industriezweig in der Hauptstadt ist.
Schon im Sommer des Vorjahres war Franziska Giffey auf Visite bei mittelständischen Marktführern. Einer von ihnen ist Kieback & Peter. Der Smart Building Spezialist verbindet intelligente Gebäudetechnik, datenbasierte Services und Synergieeffekte zu nachhaltigen Lösungen. Vor 97 Jahren gegründet, beschäftigt das Familienunternehmen heute 1.500 Fachkräfte an 50 Standorten weltweit. Zu den Vorzeigeprojekten zählt der Pariser Flughafen Charles de Gaulle. In der Hauptstadt hat Kieback & Peter beim Friedrichstadt-Palast, Europas größter Theaterbühne, neue Maßstäbe in Sachen Energiemanagement gesetzt. Man sehe sich als Vorreiter beim Klimaschutz, so Firmenchef Christoph Ritzkat selbstbewusst beim Ortstermin mit seinem prominenten Gast.
Keine Bewerber, kein Platz
Auf den Spuren von Angela Merkel wandelte die Senatorin in Zehlendorf. Von dort verschickt Knauer seine Laborgeräte in mehr als 70 Länder. In der Corona-Pandemie lieferte der Gerätebauer Produktionsanlagen für Pfizer und Biontech, mit denen mRNA-Impfstoffe so verkapselt werden können, dass sie sicher zur Zelle gelangen. Das brachte dem Hidden Champion 2021 sogar einen offiziellen Besuch der damaligen Bundeskanzlerin ein. „In der Küche habe ich die ersten Geräte gebaut, im Badezimmer experimentiert“, erinnert sich Herbert Knauer, der das Unternehmen 1962 gegründet hat. Mittlerweile führt Alexandra Knauer die Geschäfte. Sie fördert Frauen im Job, zahlt Prämien und Boni. Doch der akute Fachkräftemangel trifft auch den Modellmittelständler. „Mitunter gibt es über Monate keine einzige Bewerbung“, klagt die Juniorchefin.
Dem dritten im Bunde geht es ähnlich. Mit der Firma Hans Timm Fensterbau stand ein Marienfelder Handwerksbetrieb auf dem Besuchsprogramm. Ein noch größeres Problem als der Fachkräftemangel ist hier akuter Platzbedarf, weil die drei Fertigungshallen nicht mehr ausreichen. Die 150 MitarbeiterInnen stellen jährlich bis zu 20.000 neue Fenster her. Sanieren außerdem 8.000 der historischen Kastendoppelfenster pro Jahr. Es könnten aber locker 20.000 sein, gäbe es mehr Gewerbefläche. Noch etwas anderes gab Bastian Timm der Wirtschaftssenatorin mit auf den Weg: Sie möge sich für einen Ausbildungsberuf Fensterbauer einsetzen. Giffey versprach’s – und nutzte die Gelegenheit für eine Spitze gegen die Klimakleber. Für die Energiewende sollten die „mehr anpacken, weniger ankleben“.
Schrittmacher der Energiewende
Mehr anpacken, diese Aufforderung gilt gleichermaßen für die Bundesregierung. Diese sucht in Sachen Klimawende demonstrativ die Nähe zum Mittelstand. Bei der Transformation der Wirtschaft zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit spiele der Mittelstand eine entscheidende Rolle, umwirbt der Grüne Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung, Michael Kellner, eine Klientel, die nicht gerade zur Stammwählerschaft seiner Partei zählt. Es seien mittelständische Unternehmen, die Solardächer montieren, Häuser dämmen, Wärmepumpen bauen oder neue Recyclingideen entwickeln. Kellner kurzum: „Die Transformation gelingt nur im engen Schulterschluss mit dem Mittelstand.“
Schöne Worte, denen dringend Taten folgen müssen. „Die mittelständischen Unternehmen sind bereit anzupacken. Man muss sie nur lassen“, kontert Mittelstandschef Christoph Ahlhaus die durchsichtigen Avancen von der Regierungsbank. Und dies zu Recht. Am Beispiel der Energiewende erweist sich einmal mehr, dass gut gemeint das Gegenteil von gut ist. So hat das verkorkste Heizungsgesetz der Ampel den Betrieben vor allem Eines gebracht: noch mehr Bürokratie – und damit Kosten. „Würden die alleine dieses Heizgesetz wegnehmen, dann hätte Deutschland keine finanziellen Probleme“, ätzte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder unlängst bei einer Bauerndemo in Richtung Bundesregierung.
Bemühte Bundesregierung
Der dergestalt gescholtene Wirtschaftsminister Robert Habeck verspricht Remedur. „Wir beginnen, im eigenen Zuständigkeitsbereich aufzuräumen.“ Man suche gemeinsam mit „Praktikerinnen und Praktikern nach unnötiger Bürokratie“, schwurbelt der Grüne Ressortchef. Wo der Hobel zuerst anzusetzen ist, hätte er einer DIHK-Umfrage entnehmen können. Danach schätzen 72 Prozent der UnternehmerInnen die Verwaltungsprozesse als zu langsam und unflexibel ein. Im vergangenen Oktober hat die Bundesregierung einen Plan mit 140 Einzelmaßnehmen zum Bürokratieabbau vorgelegt. Deren Praxistauglichkeit muss sich erst noch erweisen. Im Mittelstand indes traut man dem Staat in puncto Bürokratiebekämpfung nicht allzu viel zu. Das Bürokratieentlastungsgesetz IV, spottet der BVMW-Vorsitzende Ahlhaus, sei „als Tiger gestartet und droht als Bettvorleger zu enden“.
Alle Hoffnung richtet sich jetzt auf die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI), bei der junge ExistenzgründerInnen als Impulsgeber fungieren. „Disruptiv, digital und megainnovativ treten Start-ups an, Märkte zu revolutionieren“, blickt IHK-Präsident Stietzel voller Zuversicht in die Zukunft. Und Satya Nadella, CEO des Branchengiganten Microsoft, orakelte bei seinem Berlin-Besuch im Oktober 2023: „Der deutsche Mittelstand wird der größte Profiteur von KI.“ Schön wär’s. Die meisten Mittelständler stehen hier noch am Anfang. Eine topaktuelle Studie von WIK-Consult im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums listet schonungslos die Schwachstellen bei den Klein- und Mittelbetrieben auf: „Fachkräftemangel bzw. fehlendes Wissen, eine fehlende Datenbasis sowie fehlende finanzielle Ressourcen.
Etwas besser sieht es in der Hauptstadt aus. Laut einer Umfrage der IHK vom Januar kam 2023 in einem Drittel der Unternehmen KI bereits zum Einsatz. Immerhin doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Das spiegelt sich auch in der Selbsteinschätzung zum Digitalisierungsgrad wider. Die hiesigen Mittelständler gaben sich im Schnitt die Note 2,6 – eine leichtere Verbesserung gegenüber dem Jahr davor. Von einem „weltweit führenden KI-Standort“ allerdings, als den IHK-Präside Sebastian Stietzel unsere Stadt eines fernen Tages sieht, trennen die Berliner Wirtschaft und Wissenschaft noch Welten.
Fachkräfte dringend gesucht
Die Mehrzahl der Mittelständler zwischen Pankow und Rudow hat derzeit mit weitaus handfesteren Schwierigkeiten zu kämpfen. Neben der Bürokratie ist das vor allem der akute Fachkräftemangel, der sich zunehmend zu einem generellen Arbeitskräftemangel auswächst. Schon heute fehlen 90.000 Fachkräfte, bis 2035 könnten sogar über 400.000 Stellen allein in Berliner Betrieben unbesetzt bleiben. Die Hauptstadt liegt damit voll im gesamtdeutschen (Negativ)Trend: Die Fachkräftelücke erreichte im Jahr 2022 mit 630.000 ein Rekordhoch. Gleichzeitig gab es fast 2,5 Millionen Arbeitslose.
Schuld an der Schieflage ist in erster Linie die demografische Entwicklung. Ein Blick in die Statistik offenbart das Ausmaß der Malaise. Im Vorjahr wurden in Deutschland 690.000 Geburten registriert, in den 50er und 60er Jahren kamen mindestens eine Million neue Bundesbürger jährlich zur Welt. Inzwischen hat die Babyboomer Generation jedoch das Rentenalter erreicht, was das Problem in den kommenden Jahren noch verschärfen wird.
Als Antwort auf die wachsende Not der Unternehmen hat die Bundesregierung eine Fachkräftestrategie beschlossen – die sich bei genauerer Betrachtung als ein Sammelsurium disparater Einzelmaßnahmen entpuppt. Das reicht von einer „Ausbildungsoffensive Pflege“ bis zu einer „Tourismusstrategie“. Das Wichtigste sei, dass wir die inländischen Potenziale nutzen, betonte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Deutschen Bundestag. Und fügte hinzu: „Wenn wir nicht alle Register ziehen, wird der Fachkräftemangel zur dauerhaften Wachstumsbremse für Deutschland.“
Ein Register, das die Ampel ziehen könnte, wäre die Wiedereinhaltung des Lohnabstandsgebotes. Anders gesagt, Einkommen aus regulärer Arbeit muss staatliche Transferleistungen übersteigen, damit ein Anreiz zur Erwerbsaufnahme besteht. Mit der kräftigen Erhöhung des Bürgergelds zum Jahreswechsel hat die SPD-geführte Bundesregierung genau dagegen verstoßen. BVMW-Chefvolkswirt Hans-Jürgen Völz brachte die Kritik aus der Wirtschaft auf den Punkt: „Wer mit Bürgergeld ähnlich viel in der Tasche hat wie mit regulärer Arbeit, überlegt sich genau, ob sich Aufstehen und Ärmelhochkrempeln lohnen.“
In einer gemeinsamen Erklärung forderten unlängst 19 hauptstädtische Kammern und Verbände den Senat zum Handeln auf. Ihr Hilferuf verhallte nicht ungehört. Im Gegenteil, für Kai Wegner und sein Team hat der Mittelstand Priorität. Das beweisen sie im Alltag, indem sie für bessere Rahmenbedingungen sorgen. Ein Beispiel ist die Rückkehr zu einer wirtschaftsfreundlichen Verkehrspolitik ohne ideologische Scheuklappen. Die Zeiten, in denen Lieferanten und Kunden systematisch und geradezu lustvoll aus Einkaufsstraßen verbannt wurden, gehören gottlob der Vergangenheit an.
Soweit ist die Bundesregierung noch nicht. Das dürfte auch daran liegen, dass große Teile der sie tragenden Ampelparteien generell mit dem Unternehmertum fremdeln. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie beginnen bei tradierten Vorurteilen gegenüber „dem“ Unternehmer an sich und enden, sofern man nicht Borniertheit unterstellt, bei schlichter Unkenntnis über die Bedeutung der Millionen Klein- und Mittelbetriebe für die Wirtschaft unseres Landes. Wie anders ließen sich etwa die gebetsmühlenartig wiederholten Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz erklären? Dies negiert die Tatsache, dass Mittelständler in der Regel der Einkommensteuer unterliegen. Im Klartext: ihr Vermögen steckt im eigenen Unternehmen und eben nicht in einer Luxusyacht auf dem Mittelmeer.
Praxis trifft Theorie
Aufklärung tut also Not. Eine gute Gelegenheit dazu bietet der Zukunftstag 2024 des BVMW am 13. März, natürlich in Berlin. Hier treffen gestandene UnternehmerInnen des deutschen Mittelstands auf führende Vertreter aus Regierung, Parlament und Parteien, von denen wohl nur wenige wissen, wie es in den Betrieben wirklich zugeht. „Miteinander reden sorgt für mehr Verständnis auf beiden Seiten und führt zu besseren Entscheidungen und weniger Murks“, wirbt Christoph Ahlhaus für den Dialog. Der Verbandschef muss dabei die berechtigten Interessen der zunehmend aufmüpfigen Mittelständler gegenüber der Politik vertreten. Zugegeben keine leichte Aufgabe. Aber als Rechtsanwalt kennt sich der gewiefte Verhandler mit schwierigen Fällen aus. (evo)