Eine kritische Würdigung wäre angebracht
Kommentar von Urs Brosy
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wütet weiter und kein Ende ist in Sicht. Die EU und die westliche Welt sucht weiterhin nach Möglichkeiten, Russland, aber auch russische Bürger zu bestrafen, die beschuldigt werden, die russische Führung zu unterstützen, wie etwa Roman Abramowitsch - einst der reichste Mann Russlands, der im März dieses Jahres gezwungen wurde, den Besitz des Premier-League-Fußballclubs Chelsea aufzugeben.[1] Manch einer mag glauben, dass der Schmerz reicher russischer Privatpersonen die russische Politik in die gewünschte Richtung lenken wird. Das ist eine Illusion. Putin ändert seine Politik nicht und führt den Krieg weiter. Der Diktator Putin lacht sich derweil ins Fäustchen, weiß man doch schon lange, dass er Oligarchen verabscheut. Am meisten war bis anhin der Westen von den Strafmaßnahmen gegen russische Privatunternehmen betroffen. Diese Sanktionen führen zu Inflation und Rezession.[2] Wegen mangelnder Energie könnten im Winter viele Industrieunternehmen ihren Betrieb einstellen – Arbeitslosigkeit droht und die Kälte kommt.[3]
Seit Ausbruch des Krieges und in einigen Fällen seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 wurden russische Privatpersonen von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere von der EU, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten, massiv sanktioniert. Ein erheblicher Teil dieser Personen behauptet, keinerlei Verbindungen zur russischen Regierung zu haben. Doch aufgrund der Größe ihrer Unternehmen werden sie als Marionetten des Kremls betrachtet und zusammen mit ihren Familien ins Visier genommen und mit Sanktionen belegt - ihr Kapital wird eingefroren und ihre finanziellen Möglichkeiten werden lahmgelegt, während gleichzeitig Geschäftsabschlüsse unterbunden und Vermögenswerte beschlagnahmt werden.[4]
Die Sanktionen gegen Russland verfehlen in vielerlei Hinsicht ihre Wirkung und wirken als Bumerang. Die Lebensmittel-, Gas- und Ölpreise in Europa und Afrika steigen enorm.[5] Die derzeitige Politik der "pauschalen" Sanktionen bzw. der fehlenden Differenzierung zwischen Sektoren, Zielen oder der Berücksichtigung potenzieller Auswirkungen ist die Ursache dafür. Jedoch müsste man gezielte Sanktionen verhängen, die auf bestimmte Bereiche mit messbaren Auswirkungen abzielen, die sich langfristig als wirksamer gegen Russland erweisen und gleichzeitig wenig Kollateralschäden für den Westen verursachen.
Kürzlich haben sich Stimmen aus der Schweiz, insbesondere aus der Sicherheitspolitischen und der Außenpolitischen Kommission des Ständerats, gegen die eigenständige Verhängung von Sanktionen gegen Einzelpersonen und Unternehmen ausgesprochen.[6] Dies steht in Gegensatz zu einer Motion vom Juni, die die Schweiz dazu auffordert, ihre Sanktionspolitik in Richtung unabhängiger Sanktionen zu ändern. Der Rat forderte daher, die derzeitige Politik beizubehalten, die es der Schweiz erlaubt, von der EU verhängte Sanktionen zu akzeptieren, anstatt eigene Sanktionen zu verhängen.
Die Schweiz sollte ihre neutrale Haltung beibehalten, die jahrzehntelang der Motor für finanzielles Wachstum und eine solide Grundlage für Verhandlungen und Diskurse zwischen sich gegenüberstehenden Organisationen und Staaten war. Die souveräne und unabhängige Haltung der Schweiz ist einzigartig und wertvoll - eine wichtige Stimme auf der Weltbühne.
In Anbetracht der aktuellen EU-Politik, die es ermöglicht, Personen wegen verdächtiger Verbindungen zum Kreml oder angeblicher Einflussnahme in Russland ins Visier zu nehmen, sollte die Rolle der Schweiz eher darin bestehen, ein rechtsstaatliches Verfahren einzufordern, um sicherzustellen, dass diese Anschuldigungen jeweils geprüft werden, bevor Sanktionen umgesetzt werden. Die Schweiz sollte sicherstellen, dass diejenigen, die sanktioniert werden, diese Strafmaßnahmen auch wirklich verdienen. Als ein Land, das sich seit langem für die Einhaltung des Völkerrechts und der Rechtsstaatlichkeit in der internationalen Gemeinschaft einsetzt, kommt der Schweiz unter den derzeitigen Umständen eine wichtige Rolle zu.
Die derzeitige Richtung, die die EU vorgibt, wird nur Rückschläge, Ressentiments und rechtliche Unstimmigkeiten hervorrufen, anstatt Wachstum, Wohlstand und Vertrauen zu fördern. Es gibt in verschiedensten europäischen Ländern bereits Demonstrationen gegen die Sanktionen[7],[8] – was gibt es Besseres für Putin, als zu sehen, dass der Westen langsam aber sicher auseinanderbricht. Gesetzgeber und politische Entscheidungsträger müssen sich die Frage stellen: Können es sich Länder wie die Schweiz oder Deutschland leisten, politischen Entscheidungen blindlings zu folgen, oder sollte man dies wenigstens nicht kritisch hinterfragen. Das Endergebnis mag der Status quo sein, aber eine kritische Würdigung wäre angebracht.